Grünli

 

 

Grünli lebte in der Schweiz. Hätte er das gewusst, es wäre ihm ziemlich egal gewesen, aber dem Leser mag das eine Vorstellung geben: Berge, klare frische Luft, steile Abhänge – und über den Wolken ständig die Sonne.

 

Für Grünli war das „normal“, er kümmerte sich nicht darum. Für ihn war wichtig: das Wetter, die Bodenbeschaffenheit, die Besucher, die ihn und die anderen besuchen kamen (da zählte Grünli ziemlich genau – er war noch sehr jung), die Jahreszeit, die nähere Umgebung. Überhaupt: es zählte nur die nähere Umgebung. Weit war Grünli sowieso noch nie gereist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: er hatte sich noch nie vom Fleck gerührt. Warum auch? Nahrung fand er in Hülle und Fülle, wo er war, Unterhaltung gab es genug, und was in der weiten Welt so vor sich ging, das erzählten ihm schon die unterschiedlichsten Besucher auf die ihnen ganz eigene Art:

Bienen erzählten von den schönsten Wiesen, dem besten Nektar, vom verführerischen Duft.

Schafe meckerten einfach immer: Das Gras war anderswo ja sowieso immer besser, schmackhafter, saftiger – nun, Grünli konnte das recht sein. So ließen sie ihn wenigstens in Ruhe (wenn er Glück hatte – denn Schafen konnte man nie trauen, nicht, wenn sie in die eine, nicht, wenn sie in die andere Richtung trampelten).

Die in der Nähe stehenden Bäume erzählten die Botschaften der weiter entfernt stehenden, und die hatten sie wieder von weiter entfernt stehenden und so weiter und so fort – so erfuhr Grünli sogar von den Regenwäldern auf der anderen Seite der Erdkugel.

Hunde erzählten, was sie heute wieder zu fressen bekommen hatten, oder was sie gerade rochen und jagen wollten – so erfuhr Grünli, wie bestimmte Wesen hießen, und wozu sie offenbar geschaffen worden waren. Mäuse waren ausschließlich dazu da, gejagt zu werden – sagten Hunde und Katzen.

 

 

 

 

Die Mäuse ihrerseits wiederum waren der Ansicht, sie seien die, die Körner hüten und aufbewahren für deren bessere Bestimmung (aber Grünli hatte so den Verdacht, dass die „bessere Bestimmung“ der Körner der Verdauungsapparat der Mäuse war).

Mäuse und andere Nager brachten noch Botschaft mit von den Menschen, und so erfuhr jede Wiese sofort, wann die Zeit des Mähens gekommen – dann war eine tiefe Trauer unter den Halmen des Grases, und auch die Tiere, die unter dem Erdboden lebten, verkrochen sich angstvoll. Niemand konnte genau sagen, was mit den getöteten Halmen werden würde – die Schafe und Kühe hatten schon behauptet, es gefressen zu haben. Und wahrlich: zuzutrauen wäre es ihnen - auch noch die Leichen der Halme zu fressen, die sich schon zu Lebzeiten niemals in Sicherheit wiegen konnten.

 

„In Sicherheit wiegen“ – ach, wie schön klang das. Habe ich schon erwähnt, dass Grünli ein Grashalm war? Einer der ganz jungen, frischen, die, wenn die Sonne durch das Grün scheint, fast golden leuchten? Es sind diese jungen, dieses feine Gold, auf das eine Wiese so besonders stolz ist: Ist es doch der Nachwuchs, der bezeugt, dass die Erde gut, das Wetter schön, die Wiese fein und dicht ist.

„In Sicherheit wiegen“ – eben dachte Grünli über diese schönen, wunderbaren Worte nach. Sie klangen so nach Wind, nach Musik. Er hörte dabei förmlich das feine Rauschen, den sanften Klang, den Gras von sich gibt, wenn der Wind es küsst.

 

Grünli dachte oft nach. Vor allem über Dinge, die er noch nicht verstand. Das tat er, um sich die Zeit zu vertreiben, aber ganz allgemein ist Gras eine nachdenkliche Spezies, und eine Wiese, die schön bewachsen ist, und viele Blumen und Bienen aufnehmen kann, der sieht man an, dass sie viel nachgedacht hat. Deshalb ist sie auch so schön.

Aber Grünli dachte nicht nur nach, weil er, wie alle seiner Art, dazu neigte (deshalb beugt sich Gras so leicht: bevor es zu einem Entschluss kommt, neigt es den Kopf, horcht zur Erde, hört ihr zu und denkt über ihre Worte nach. Danach erst richtet sich der Halm wieder auf).

 

 

Er dachte auch nach, weil er unglücklich war. Und er war unglücklich, weil er nie, nie, niemals allein war. Er lebte in einem Meer. In einem Meer aus Grashalmen. Dabei war es nicht eigentlich das, was ihn störte – es war ja viel lustiger zu vielen und man erfuhr soviel. Was ihn so störte war, dass er einer unter unendlich vielen Halmen war – und alle, wirklich alle sahen genau so aus wie er. Na ja, vielleicht nicht genauso – Halme selber können einander sogar sehr gut unterscheiden und bewahren in ihren Wurzeln sogar noch die Erinnerung an die Halme vom Vorjahr – aber für Außenstehende unterschieden sie sich gar nicht. Er hatte schon von „Wiese“ reden gehört von einer Spezies, die keine Ahnung von „Wiese“ haben konnte – jedenfalls hatte er, Grünli, noch nie einen der Zweibeiner sich neigen sehen, außer den ganz kleinen, die am Gras noch riechen mochten. Offenbar wurden die Zweibeiner mit den Jahren älter und kleiner und weiser. Aber je größer sie waren (und wohl auch jünger), desto dümmer schienen sie.

Schafe wählten überhaupt nicht aus, sie fraßen, was ihnen vor die Schnauze kam, und Grünli hatte sich schon gefreut, wenn eine Distel dabei war. Nicht wegen der Distel – er mochte Disteln gerne, und um jeden dieser tapferen Wächter und Kämpfer war es ihm schade, wenn er verschwand. Er hoffte nur, sie kämpften in den Schafen genauso tapfer weiter. Er hoffte, sie wären der Grund, wenn einige Schafe nicht wiederkamen. Aber genau wusste er es nicht.

Bienen hatten nur an den Blumen Interesse. Und Grünli beneidete die Blumen. Oh, und wie er sie beneidete!! Jede einzelne war den Bienen bekannt, sie unterhielten sich über die Blumen und Blüten äußerst fachkundig und mit dem allergrößten Interesse.

 

Und wer fragte nach einem Halm? Wer, bitte, fragt nach Grünli? Kennt außer ihm selber und den anderen Halmen noch irgendjemand seinen Namen (hier wurde vollkommen unwichtig, dass es so um die Millionen oder Milliarden Halme waren, die seinen, Grünlis, Namen wussten – aber, wie schon gesagt, Grünli ist noch sehr jung)?

 

 

 

Er ist noch sehr, sehr grün, eben erst sprießt seine kleine Spitze aus dem innersten Herz einige anderer Grashalme empor. Eben erst – ihm allerdings schien es Ewigkeiten her zu sein (für Gras vergeht die Zeit schneller als für uns) – hatte zum ersten Mal ein kleiner, lustiger Sonnenstrahl ihn geküsst, eben erst war der Wind probehalber einmal über ihn hinweg gefahren.

„Eben erst“ ist für einen Menschen einige Tage.

„Eben erst“ ist für eine Schnecke der Bruchteil einer Gedankenlänge.

„Eben erst“ ist für eine Biene die zuletzt besuchte Blüte.

„Eben erst“ ist für eine Maus die letzte Katze, der letzte Fuchs, dem sie entwischt ist – und mag das auch schon mehrere Wochen zurückliegen.

„Eben erst“ ist eben für jeden etwas anderes.

Und Grünli war noch jung. Inmitten seiner ganzen Eltern, Tanten, Onkel, Geschwister, Kusinen und Vettern schwand er zu einem winzig kleinen Nichts zusammen – und fühlte sich auch so. Jede Blume schien größer und höher zu sein als er selber. Jeder Grashalm überragte ihn um mehrere seiner eigenen Körperlängen. Sein frischer Duft fuhr bevorzugt den Schafen in die Nase – die Älteren des Grases beugten sich jedes leicht über ihn, wenn eines dieser gefräßigen Tiere da war, so entging er. Nicht unbedingt entgingen immer die, die ihn schützten, aber das konnte Grünli noch nicht wahrnehmen, geschweige denn schätzen. Und niemand sagte es ihm. Denn Gras ist bescheiden und gibt niemals an. Niemals wird jemand die Heldentaten von Gräsern und Halmen und ihrer großen, verzweigten Verwandtschaft singen – denn das Gras selber schweigt darüber. Es weiß gar nichts mehr davon, jedenfalls nicht, wenn es schon ausgewachsen ist. Es sind nur die Jungen, Unreifen, die noch von sich selber träumen und ihrem eigenen Mut. Die Alten träumen nur noch von denen, die vor ihnen waren und sie beschützt haben. Sie träumen nur noch von sich allen gemeinsam, als die große, den Erdball umspannende Kraft

 

 

 

 

 

 

(es geht sogar die Sage um, dass in den großen Gewässern, den Riesengewässern, dem Gras ähnliche Geschöpfe leben – die Alten nicken nur schweigend dazu, erinnern sie sich doch an große, nie aufhörende Regenfluten, Überschwemmungen, und wie man sich darin halten kann). Sie träumen von der Erde selber. Gras in all seinen Formen umspannt die Erde und hat damit ein Gefühl für ihre Form.

Gab es einmal eine Zeit, wo die Menschheit nicht gewusst hat, dass die Erde rund – oder fast rund – ist? Nun, Gras hat es immer gewusst, gefühlt, geahnt, geraunt.

 

Grünli selbstverständlich noch nicht. Er war ja noch viel zu klein. Noch kann er ja nur einen Bruchteil der Informationen, die ihm das die Erde umspannende Wurzelnetz zuträgt, fassen, so klein ist er. Und böse. Böse darüber, dass er so allein und verloren inmitten eines Meeres von Halmen ertrinkt.

 

Er hört den Alten Halm neben ihm seufzen. Und reckt sich ein wenig nach oben, um zu erkennen, was  los ist. Eine Raupe – zart und grün, so schön und frisch wie Grünli selber – rankt sich an ihm nach oben, so nach und nach. Und der Halm seufzt, und Grünli fragt sich, warum. Und die Raupe rankt sich und rankt und Grünli hört sie flüstern: „Hab Dich so lieb, schmeckst sooo süß…“ und der Halm seufzt als Antwort, und Grünli denkt sich, dass dies ein ganz besonderer Halm sein muss, der so bevorzugt aus allen Millionen (oder sind es noch mehr?) Halmen auserwählt wurde, von der zauberhaften Raupe auserwählt wurde und geliebt wird, jetzt, eben, in diesem Moment zärtlich geliebt wird und als Antwort nur noch seufzen kann. Und Grünli ist traurig und lässt seine Spitze hängen. Dabei ist er viel, viel hübscher als der Alte neben ihm – und zarter!

 

Irgendwann hört wird das Seufzen neben ihm leiser und hört schließlich ganz auf. Wieder reckt sich Grünli. Er will wissen, was  passiert ist. Er sieht die Raupe nicht mehr. Und er Alte Halm lässt den Kopf hängen.

 

 

 

 

Das versteht Grünli gut. Er würde seine Spitze auch hängen lassen, sogar ganz tief würde er sie niederhängen lassen, wenn seine Liebste – wenn er denn eine hätte – ihn verließe.

 

Was Grünli nicht versteht, ist das Loch an der Seite des Alten – er weiß, ohne es zu sehen, dass da jetzt Wasser austritt und der Alte damit beschäftigt ist, diese Wunde zu schließen. Woher Grünli das weiß, könnte er allerdings nicht sagen. Er weiß es einfach. Und, wie alle in einem weitem Umkreis, weiß er, der Alte leidet Schmerzen. Sie alle wissen das. Während dieser – für einen Menschen kleinen – Erfahrung mit der Raupe ist Grünli ein winziges kleines Stückchen gewachsen. Aber dieses winzige kleine Bisschen hat ihn größer werden lassen, etwas mehr des Wurzelwissens ist ihn eingedrungen, hat Platz gefunden in ihm, und mit einem Mal fühlt er ähnlichen Schmerz neben sich und weit fort davon – unendlich weit fort, so scheint es. Überall scheinen Lieben zu sein. Und Schmerzen, Wunden. Grünli kriecht etwas, nur ein winzig kleines Bisschen, zurück in den Halmenschoß, aus dem er kommt um noch einmal nachzudenken, diesmal ein wenig mehr als vorher. Er ist ja auch nun auch schon größer und reifer!

 

Und erhört das Gemurmel tief an seiner Wurzel in der Erde – oh, wie tröstend! Dies Gemurmel spendet Trost und Rat – er hört, wie im weiten, unendlich verzweigten Wurzelwerk Ratschläge und liebe Worte weiter gegeben werden. Er hört den Dank derer, die sich nun wohler fühlen. Und ab und zu kitzelt ihn etwas: andere Wurzeln, die sich an den seinen reiben, sanft, vertraut, selbstverständlich: sie werden immer da sein. Er wird niemals allein sein.

 

Auch nicht, wenn ihn jemand sehr lieb hat.

 

Und mit einem Mal ist er froh, sehr, sehr froh darüber, dass sie alle so viele sind.