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Ein neuer Anfang

Es dauerte eineinhalb Jahre, bis Ananda nach dem Tod des Meisters wieder einigermaßen zu sich zurück gefunden hatte. Sie war nunmehr ein veränderter Mensch. Sie war weicher, zumindest mir gegenüber. Für andere war sie nach wie vor schwer zugänglich. Eine vorsichtige Distanz behielt sie durch ihr ganzes Leben bei. Es war weniger die Verfolgung durch die Gestapo in Prag, sondern der Schock durch den Verrat etlicher ihrer Mitmenschen, der sie derart traumatisiert hatte, dass sie nie wieder rechtes Vertrauen in andere Menschen finden konnte. Darunter litt auch ihre Beziehung zu den Yogaschülern – sie hielt immer Abstand.

Nun, da sie begann den Tod des Meisters zu überwinden, vertiefte sich ihre Religiosität in der sie sichtlich Halt fand. Wir suchten häufig Kirchen auf und beteten. Guru Ananda legte wenig Wert auf Konfessionen. Eine jede Kirche war für sie ein Ort der Andacht. Die Kirche musste Atmosphäre haben, das war ihr wohl wichtig.

Zuerst gelegentlich, dann häufiger setzte sie in Gesprächen während der Spaziergänge meine Yogaausbildung fort. Die Thematik hatte merklich gewechselt. Es gab nunmehr weniger indische, philosophische Lehren. Dagegen erzählte sie mir mehr über die verschiedenen Religionen, speziell über das Judentum und die Kaballah. Sie gab sich viel Mühe mir die jiddischen Gepflogenheiten zu erklären, die ihr aus der Kindheit in Erinnerung waren, die Feste, den Talmud und die Lebensweisen ostpolnischer Chassidim. Sie erklärte mir die einzelnen Kultobjekte, indem sie mir diese in illustrierten Büchern zeigte, oder besuchte mit mir das Völkerkundemuseum und erklärte mir die dort ausgestellten jüdischen Sakralobjekte. Zu vielem erzählte sie mir Geschichten aus ihrem Leben. Sie führte mich auch an einem Wochentag in die Synagoge in der Innenstadt. Der „Schames“ (Tempeldiener) am Eingang erkundigte sich nach mir. Ich war ihm sichtbar ein Fremder, abgesehen davon, dass ich kein Käppi trug, sondern eine Baskenmütze. Nach einer zufriedenstellenden Plauderei mit Ananda auf jiddisch ließ er uns hinein. Ich konnte gut die Hälfte verstehen. Mir gefällt diese Sprache, und wäre sie noch lebendig wie früher, so würde ich sie gerne lernen. Es ist eine melodische, weiche Sprache. Im Tempel ließ mich Ananda in der Vorhalle die Hände waschen und erklärte mir danach den Gebetsraum.

Noch mehr als die jüdischen Gepflogenheiten interessierte mich die chassidische Lehre der Ostjuden. Speziell faszinierten mich die Schriften von Martin Buber. Seine Bücher „Die Legende des Baalschemtow“ und „Chassidische Legenden“ verschlang ich geradezu. Ebenfalls sehr interessant fand ich die Buchstaben/Zahlen Auslegungen nach Weinreb. Es gab mir einen faszinierenden Einblick in die kabbalistischen Methoden. Zu meinem Bedauern musste ich feststellen, dass mich ein tieferes Studium überfordern würde, da ich kein Althebräisch konnte. Auf jeden Fall jedoch bewirkten die Bücher von Weinreb in mir eine Hochachtung vor der tiefsinnigen Art des Denkens in der Bibelauslegung.

Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum glaubten die ostpolnischen Chassidim an eine Reinkarnation. Ein wesentliches Element ihrer Lehre befasste sich mit der spirituellen Evolution, mit der Rückführung der Lebensfunken (Funken der Schechina, siehe Anhang). Insofern sind und waren die Chassidim dem orthodoxen Hinduismus, der nur ein Bestrafungs- und Belohnungsschema kennt, mit chaotischer Geburtenfolge als Tier, Pflanze oder Mensch, weit voraus. So hieß es bei den ostpolnischen Chassidim:

Ich war beeindruckt: Die Idee einer Evolution, Jahrhunderte vor Darwin.

Ananda wollte mir auch das Christentum näher bringen. Oft waren wir in den Sonntagsmessen der russisch orthodoxen Kirche und der ukrainischen Kirche. So wie ich mich im Judentum durch Lektüre weiter bildete, so las ich auch Schriften über die östliche christliche Kirche, etwa die Philokalia, eine Sammlung von Texten heiliger Kirchenväter der griechisch orthodoxen Kirche. Ihr zufolge ist die Liebe zum Schönen, dem Ekstatischen und Erhebenden die transzendente Quelle der Wahrheit.

Beispiele aus der Philokalia:

Wenngleich manche Ratschläge aus der Philokalia das Asketentum mit Selbstkasteiung verwechseln, so habe ich dennoch für mich viel wertvolles Gedankengut daraus entnommen. Auch später unter den vielen Yogis des Ashrams war die Philokalia ein gern gelesenes Buch.

Interessanterweise war es das russische Herzensgebet „gospodi pomilui“, das mir ein tieferes Verständnis für das Japa einbrachte (Japa ist die permanente Wiederholung eines Mantras, eines Gebetsspruches). Ich lernte erkennen, dass beim Japa die Bedeutung nicht in der Wirkung eines Zauberspruches liegt, sondern in der inneren Entflammung, die insofern erleichtert wird, als die Gedanken durch die ununterbrochene Wortwiederholung nicht so leicht abschweifen.

Saddhu mit Japamalas (Gebetsketten)

Immer, wenn wir an „unseren“ Kirchen vorbei gingen, traten wir ein und entzündeten eine Kerze für den Meister. Die Gewohnheit habe ich bis heute beibehalten; nur sind es jetzt drei Kerzen – eine für den Meister, eine für Ananda und eine für alle, die mir seelisch nahe sind.

Etliche Vorstellungen der Kirche hatten bei Guru Ananda keinen Eingang gefunden. Dazu gehörte die Polarisation in Gut und Böse, welche bei vielen Menschen zu großen seelischen Spannungen führt und sie „gut“ sein lässt aus Angst und nicht aus einem inneren Empfinden heraus. Sicherlich war Ananda bewusst, dass auf der Welt viel Unrecht geschieht, hatte sie doch selbst darunter viel gelitten. Die Wurzel des Übels sah sie jedoch immer im Menschen selbst und nicht in Teufeln und Dämonen, die man gerne für die eigenen Fehlhaltungen zu Sündenböcken macht. Sie betonte, Stärke und Umsicht ist es, was wir lernen müssen und nicht Ausreden.

Bezüglich der Verarbeitung ihrer seelischen Schmerzen durch den Tod des Meisters gab es bei Ananda auch nach über einem Jahr Probleme: Anandas Trauer klang nur schwach ab. Unzähliges in ihrer Umgebung war mit Erinnerungen an den Meister, mit Ereignissen und Anekdoten imprägniert und belebte die Vergangenheit immer wieder neu.

Als wir einmal mit dem Hausverwalter sprachen, ließ ich die Bemerkung fallen, dass wir einem Wohnungstausch zugeneigt wären. Die Firma, der das Haus gehörte war reich und besaß viele Häuser. Der Verwalter war begeistert, weil wir in dem Zentralgebäude der Firma wohnten und er die Räume für Büros verwenden wollte. Er bot uns die schönsten Wohnungen in den besten Bezirken Wiens an. Wir nahmen sein Angebot an. Es war eine Art Fügung, denn damit begann ein völlig neues Leben für Ananda und mich und eine neue Ära des Yoga.