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Hinter den Kulissen

Obwohl ich viel in meiner Freizeit bei Ananda und dem Meister war, hatte ich wenig Einblick in das Privatleben. Das war ein Tabubereich, der nicht überschritten werden konnte. Ananda war zumeist sehr ernst. Ich interpretierte dies als Persönlichkeitsmerkmal und als Folge der tiefen Einsichten durch Yoga, in dem Sinne: Die Welt ist eine Prüfung, der man nur mit Ernst und Kampfgeist begegnen kann. Das entsprach ungefähr meiner Idealvorstellung, die ich in Ananda hinein projizierte. Yoga als innere Kampfdisziplin, das gefiel mir, dagegen Yoga als Meditationsweg, der uns heiligt und zu liebevollen Wesen macht, das hätte ich damals als einen verweichlichten Weg betrachtet.

Das Leben von Ananda war jedoch keineswegs so einfach wie ich dachte und ihr Ernst hatte tiefgreifende Ursachen. Sie hatte große Sorgen um die Gesundheit des Meisters. Dass ich Einblick in die Familientragik bekam, verdanke ich einer Handvoll Karotten (Mohrrüben).

Es begann so:
Zu jener Zeit wohnte ich in einer Bassenawohnung (eine Wohnung ohne Wasser und Toilette). Eine Bassena ist ein Wasserhahn mit einem kleinen, gusseisernen Auffangbecken, irgendwo im Hausflur oder gar im Hof. Natürlich gibt es hierbei nur Kaltwasser. Die Toilette befindet sich in solchen Häusern ebenfalls im Hausflur, und wenn man mal in der Nacht hinaus muss, dann sieht man gelegentlich Nachbarn geisterhaft in ihren Schlafgewändern dahinhuschen.

Warum ich so ausführlich über diese Kleinigkeit schreibe? Es erschwerte das Kochen! Ich hatte einen kleinen Gasofen, „Rechaud“ sagte man bei uns. Ein Standardgerät. Der Ofen hatte zwei Flammen und einen Gummischlauch, den man auf die Schlaucholive am Ende des Gasrohres stecken konnte. Der Gummischlauch war noch nicht brüchig. Mit diesem Gerät habe ich mir etliche mal Mittagessen gekocht.
Aber wie sollte ich die Teller abwaschen? In der winzigen Bassena, mit kaltem Wasser und ohne Verschluss für den Abfluss? Einen Stöpsel für die Bassena zu basteln, das hätten die Nachbarn nie zugelassen, denn die Basena war ein Heiligtum und durfte nur zur Entnahme von Wasser verwendet werden. Für einen einzigen Teller war es zu aufwendig Wasser zu wärmen. In einer derart kleinen Wohnung musste man zum Abwaschen das „Lavoir“ (Waschschüssel für die Morgen und Abendtoilette, aus emailliertem Blech) verwenden. Darin hätte ich die Teller abwaschen müssen und dann zur Gang-Toilette laufen müssen, um das Abwasser auszuleeren (es galt als schwerer Verstoß, Abwasser in die Bassena zu leeren). Oft ging bei solchen Aktionen die Tür einer Nachbarin auf, die mit Argusaugen darauf acht gab, dass man ja die Gepflogenheiten für Bassena und Toilette einhielt. „Bei den jungen Leuten konnte man das ja nie wissen, die haben ja keine Ahnung vom Leben.“
Man könnte noch mehr darüber berichten, aber ich will zum eigentlichen Kern der Erzählung kommen. Jedenfalls wissen Sie jetzt, zumindest teilweise, wie umständlich eine solche „Kleinigkeit“ in Bassenahäusern sein konnte.

Nun, um die Mühen zu rationalisieren und die Teller einiger Tage auf einmal waschen zu können, stapelte ich die schmutzigen Teller auf einem Stuhl der Vorzimmer-Küche. So war es zumindest geplant. Sobald die sauberen Teller aufgebraucht waren, merkte ich, dass die Teller steinhart verkrustet waren und nicht mehr aufweichten. So warf ich das Ganze in den Mülleimer. Ab diesem Zeitpunkt aß ich kalt, denn ein Essen in Gasthäusern konnte ich mir nur gelegentlich leisten.

Von Broten und dergleichen zu leben ist nichts Besonderes, viele Studenten leben so.
Es war so, dass bei Guru Ananda eine Schülerausbildung völlig anders erfolgte, als in einem der üblichen Seminare oder Kurse. Sie inspizierte die Wohnungen von sich allein versorgenden Schülern, zum Glück unter Vorankündigung, um zu sehen, ob sauber aufgeräumt ist. Auch ich hatte die unerfreuliche Ehre. Ein Bild, über einen Meter groß, von mir mit Kohle gezeichnet, eine barbusige indische Tänzerin mit schwingenden Hüften darstellend, erweckte einen missbilligenden Blick und musste von der Wand entfernt werden.
Gelegentlich wurde auch meine Tasche mit den Yogasachen inspiziert. Etwa ob die Yogakleidung sauber in ein Tuch eingeschlagen sei. Als Ananda in der Tasche einmal Karotten (Mohrrüben) vorfand, mich verwirrt fragte, was die wohl da zu suchen hätten und hörte, dass dies mein Essen sei, da schmolz ihr Herz vor Mitleid.
Ab diesem Augenblick verwandelte sie sich von einem strengen zu einem gütigen Guru.

Nach der Tascheninspektion wurde ich gebeten bei ihr zu essen. Sie kochte für mich extra große Portionen und versuchte mich so pummelig werden zu lassen wie sie selber war, das allerdings mit geringem Erfolg. Sehr oft kochte sie eigens für mich eine meiner Lieblingsspeisen. Das schmeckte fabelhaft, denn Ananda war eine gute Köchin.

Durch das tägliche Essen bei Ananda wurde ich vollkommen in das Leben von Ananda und den Meister integriert. Ich wurde zu einem Familienmitglied.

Gelegentlich war ich dabei, wenn ein Bild gemalt oder eines verkauft wurde. In letzterem Fall fiel mir die Küchenarbeit mit Kaffeekochen und Servieren zu. Solche Hilfestellungen waren nur am Wochenende oder abends möglich, da ich eine ganztägige Arbeit hatte.

Allmählich tauchte ich tiefer in die Welt des Meisters und Anandas ein. Da gibt es interessante Details, die ich gerne erwähnen möchte. Beginnen wir mit der Malweise des Meisters. Seine Malweise faszinierte mich und ich bewunderte ihn sehr ob seiner Virtuosität. Er hatte eine ungemein ausgeprägte Eidetik, konnte Bilder mit seinem inneren Auge auf die Leinwand projizieren und dann einfach nachmalen.

Der Meister war ein ekstatischer Maler. Wenn er ein Bild malte, war die Außenwelt für ihn nicht mehr existent. Niemand durfte ihn ansprechen und aus seiner Trance werfen. Selbstverständlich gab es hierbei weder Essen noch Pausen. Am Ende war er erschöpft und ausgelaugt.
In Malekstase kam er, wenn ihn irgend etwas so faszinierte, dass es den Alltag verdrängte. Das hing nicht bloß von einem erschauten Motiv ab, sondern war ein Zustand, der sich ebenso gut aus einem Gedicht oder aus einer Idee heraus aufschaukeln konnte.

Seine Bilder entstanden in Spachtelarbeit. Sie bekamen durch diese Technik nicht nur Farbe, sondern auch Tiefe und Profil. Das macht seine Bilder für mich besonders schön.

Zu meiner Überraschung bat mich der Meister eines Tages ihm ein Bild zu skizzieren. Es ging dabei um die Andeutung einiger Personen. Ich malte drei Personen mit Kohle auf die Leinwand. Es gefiel dem Meister und es war geeignet ihn zu inspirieren.
Er stellte sich in zwei Meter Abstand vor die Skizze und sah sie etwa eine Minute lang an. In dieser Zeit schienen die Figuren für ihn lebendig zu werden. Er beschrieb es mir mit einigen hingeworfenen Kommentaren. Sie schritten im Bild von da nach dort, einige Personen kamen noch dazu, um mit den anderen zu plaudern. Als die Gruppe fünf Personen aufwies und die Personen gerade so standen, dass ihre Anordnung harmonisch war, zeichnete sie der Meister durch schnelle Pinselstriche in Umrissen nach. Meine Kohlezeichnung, die längst nicht mehr zur neu entstandenen Szene passte, störte ihn hierbei nicht im geringsten. Sie war schon längst in seiner Phantasie von einem anderen, leuchtenderen Bild überlagert.

Die Figuren in den Bildern lebten für den Meister. Wenn das Bild fertig war, waren die dargestellten Personen in der Bewegung relativ eingeschränkt, aber gestikulieren konnten sie noch immer, etwa wenn sie mit dem Meister diskutierten. Gelegentlich gab mir der Meister die Ehre und ließ mich an solchen Diskussionen teil haben. Er stellte mir die einzelnen Akteure vor und ihre Charaktere. Besonders liebte er die humorvollen und witzigen Typen. Diese wurden in seinem Zimmer an einer besonders günstigen Stelle an die Wand gehängt. Die Zimmerwände waren in allen Räumen mit Ölgemälden geradezu tapeziert.

Die gemalten Figuren waren für den Meister gleichsam geisterhafte Wesen einer anderen Welt und waren von unserer irdischen Welt nur durch ein Fenster getrennt, welches durch den Bilderrahmen gebildet wurde. Gelegentlich verdolmetschte mir der Meister die Worte, welche die Bildgeister zu ihm sprachen. Dann wendete er sich dem Bild zu, sprach und lachte kurz darauf. Der Meister gab mir dann die Antwort der Bildgeister, so dass ich der Diskussion zu folgen vermochte.

Diese Verlebendigung, die ihm einmalig schöne und dynamische Bilder erschaffen ließ, hatte auch seinen Nachteil: Die Nacht ist eine besondere Zeit! Die Herrscher der irdischen Welt, wir Menschen, begeben sich zur Ruhe und mit ihnen aller Lärm und alle Hektik. Wir machen den Geistern Platz, die nun ihrerseits die Welt übernehmen. Das zumindest galt für den Meister. Die Geister sprangen und kletterten aus den ihnen zugewiesenen Fenstern und umringten den Meister, der in seinem Bett lag und nicht mehr einschlafen konnte. Täglich zog der Meister mit Kreide seinen Bannkreis, um sie auf Abstand zu halten. Da standen sie nun und diskutierten auf ihn ein, meist alle zugleich. Sie waren empört, wenn der Meister sie nicht anhörte, sich ihnen nicht einzeln widmete, sondern sich nur dem Kollektiv zuwendete, um es zu verscheuchen. Aber wie sollte er diese Ansprüche erfüllen, wenn alle gleichzeitig gestikulierend auf ihn einsprachen? Einzelne Geister wurden ob seiner Ignoranz wütend, erhoben die Fäuste und schrieen. Das schaukelte sich auf und allmählich begann die ganze Menge zu toben.

Nacht für Nacht sprang der Meister zuletzt verängstigt aus dem Bett und lief in seinem Schlafzimmer herum. Allmählich bekam auch Ananda Angst, zwar nicht vor den Geistern, aber vor dem in Panik geratenen Meister. Auch sie hatte dadurch schlaflose Nächte.

Schlaflose Nächte und Stress

Aus dieser Situation heraus ist es verständlich, dass mich Ananda eines Tages bat in ihre Wohnung zu übersiedeln. Sie hatte Angst! Ich richtete mir ein Bett in dem Schauraum, ein zentrales, sehr großes Zimmert, ein und wir legten einen Klingeldraht von meinem Bett zu ihrem. Bei mir war die Schelle. Sollte die Situation einmal kritisch sein, würde sie auf den Klingelknopf drücken und ich könnte ihr zu Hilfe eilen. So war es gedacht. Glücklicherweise kam es nicht dazu.

Interessanterweise wirkte ich auf den Meister sehr beruhigend. Dadurch konnte ich bei ihm manches durchsetzen, was er Ananda schlichtweg abgeschlagen hatte - etwa seine Gemälde zu signieren.

Von all diesen Problemen erfuhr keiner der außenstehenden Menschen. Man konnte dem Meister tagsüber seine Krankheit nicht ansehen, denn er war hochintelligent und gebildet und eine sehr starke Persönlichkeit. Jeder, der ihn kannte, war von ihm beeindruckt. Zudem war er gerecht und humorvoll, wenngleich er einen etwas sarkastischen Humor liebte. Die Ereignisse der Nacht waren unser tiefes Geheimnis.