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Vertiefter Yogaunterricht

In meinen ersten Yogajahren lernte ich einen Leitspruch den man Hermes Trismegistus zuschreibt. Dieser Spruch war Ananda sehr wichtig und wir mussten ihn uns als kosmische Strukturformel einprägen. Der Spruch lautet:

In Erweiterung kann man den Sinn folgendermaßen ergänzen:

Die Formel besagt, dass das Äußere auf das Innere wirkt und umgekehrt. Das gab mir Ananda in Form einer Verhaltenslehre weiter. Aus den Bewegungen, der Körperhaltung, dem Gesichtsausdruck kann man relativ detaillierte Rückschlüsse über die psychische Verfassung eines Menschen ziehen. Umgekehrt gibt es auch die Möglichkeit, über Körperhaltung und Bewegungsabläufe auf die Psyche einzuwirken und die Persönlichkeit eines Menschen durch Training im positiven Sinne umzugestalten.
Der Meister war in seiner Jugend ein bereits gefeierter Schauspieler im Deutschen Theater zu Prag. In der Darstellung verschiedener Charaktere musste er in Sprache, Auftreten und Haltung die im Theater dargestellten Persönlichkeiten dem Publikum glaubhaft darstellen. In seiner Schauspielerschulung erlernte er die Charakterimitationen bis ins kleinste Detail.
Ananda wurde hierin seine gelehrige Schülerin. Sie versuchte Wissen und Methoden, die sie vom Meister übernahm, zusätzlich durch Yogaübungen, wie etwa bewusstes Atmen zu erweitern. Wir lernten uns mittels der von ihr gelehrten Methoden in eine Geisteshaltung zu vertiefen und diese durch Autosuggestion und Selbstkontrolle zu festigen. Es war nicht möglich die vielen Details, verbunden mit Beobachtungen und Korrekturen an einen Schülerkreis weiter zu geben. Es konnte dieses Wissen auch nicht durch Vorlesungen theoretisch gelehrt werden, sondern musste im Leben angewendet, korrigiert und erweitert werden.

Teils in praktischen Anwendungen innerhalb von Einzelstunden, teils in kurzen Bemerkungen begann mich Ananda in Verhaltenskontrolle und Körpersprache zu schulen. Wir saßen etwa im Freien an einem Tisch und beobachteten die Passanten. Ananda erklärte mir an den Details der Körperhaltung und Bewegung die jeweiligen Charakterzüge der Menschen. Ein erster wesentlicher Eindruck, den man schon aus der Ferne gewinnen kann, war die Beobachtung der Haltung und Bewegung beim Gehen. Unsere Yogastunden in den Kaffeehausgärten erwiesen sich hierbei als besonders geeignet für solche Studien. Vorbeigehende Passanten wurden beobachtet, einige Details ihrer Haltung oder Bewegung erklärt und dann wurde ich gebeten selbst einige Schritte zu gehen und das soeben erschaute Verhalten zu imitieren, wobei ich zum besseren Erkennen die zu studierenden Ausdrucksformen übertreiben sollte. Ich lebte mich in verschiedene Persönlichkeitsverhalten ein, imitierte diese und horchte in mich hinein. Anschließend besprachen wir, was ich hierbei gefühlt hätte und wie es auf meine Stimmung und mein Selbstbewusstsein rückgewirkt habe.

Teilweise gab es hierzu auch exotische Übungen. Ich erinnere mich an den „Fingertanz“, eine persische Übung, in welcher man durch Fingerstellungen auf die Psyche einzuwirken versucht.

Die Anwendung all dieser Methoden an mir selbst war nicht einfach. Es erforderte eine bleibende innere Aufmerksamkeit und immer wiederkehrende Korrekturen, wenn ich in alte Verhaltensmuster zurück gefallen war. In drastischen Fällen wies mich Ananda darauf hin, während sich der Meister mit Kommentaren zurück hielt.

Die ersten Korrekturen betrafen sehr augenscheinliche Gegebenheiten, etwa Körperhaltung, Atmung und Lautstärke und Betonung der Sprache bei Vorträgen. Ein Aspekt, der mir sehr zu schaffen machte, war meine Schüchternheit. Am liebsten hätte ich mich bei meinen Vorträgen im Rahmen des Schülerkreises verkrochen. Die Yogamethode des Sattipathana kam mir hierbei jedoch sehr zur Hilfe. Ich fragte mich: „Wer hat Angst, das vergängliche Ego oder das unsterbliche Selbst?“ Weiter sagte ich mir: „Deine Aufgabe im Yoga ist es über das vergängliche Ego hinauszuwachsen und sich nicht damit zu identifizieren.“ Das half mir sehr, mich nicht so wichtig zu nehmen und mich voll auf den Inhalt zu konzentrieren. Natürlich spricht man, wenn man Angst hat, leise. Es kostete mich eine starke Überwindung laut zu sprechen. Letztendlich war es nicht die Lautstärke, sondern die Psyche, welche ich im Vortrag kontrollieren musste. Dass ich laut und deutlich sprach, darauf achtete Ananda ganz besonders. Sie ließ in keiner Weise mangelnde Selbstdisziplin zu.
Um es mir leichter zu machen, verschaffte sie mir Unterlagen und ließ mich in der Anfangszeit vor der Stunde den Vortrag zur Probe halten. Das gab mir mehr Sicherheit, denn ich wusste dann, dass zumindest inhaltlich alles in Ordnung wäre und ich diesbezüglich keine zusätzliche Furcht haben müsste.

Noch schwerer als Vorträge waren Gedichte. In den Gedichten mussten die Emotionen voll zum Tragen kommen. Ich konnte nicht einfach intellektuell in den Raum sprechen, sondern musste meine Zuhörer anblicken und in meine Gefühle mitnehmen. Um das zu können musste ich autosuggestiv mein Selbstbewusstsein stärken, von dem Gesprochenen überzeugt sein, und zwar derart stark, dass Denken und Fühlen auf die Zuhörer übertragen wurde. Ein innerer Widerstreit meinerseits zwischen Wollen und mangelndem innerem Vertrauen hätte die innere Kraft zum Verschwinden gebracht. Ich lernte bei einem Vortrag oder dem Rezitieren eines Gedichtes, die nötige innere Einstellung wie mit einem Schalter einzuschalten. Da gab es kein Wenn und Aber, sondern nur den inneren Befehl, der absolut war und dem sich nichts entgegen stellen durfte.

Viel später erkannte ich, dass das, was ich hierbei erwarb, mehr war als rhetorische Technik. Ich erlernte die Anwendung und die Kraft des inneren Befehls. Für mich war ein innerer Befehl eine geheimnisvolle Yogatechnik/Yogakraft. Ein innerer Befehl kann Wunder bewirken. Um seine Kostbarkeit und Einmaligkeit zu erhalten, soll er selten und gut überlegt eingesetzt werden.

Wie sich die Äste eines Baumes in immer feinere Zweige auffächern, so war es auch mit dem Erlernen der Zusammenhänge um das Wissen der Rückwirkungen von Innen und Außen. Das, was mit Gestik, Haltung, Mimik usw. begann, wurde von Ananda später durch Graphologie, Schriftkunde, erweitert. Ananda war eine geprüfte Graphologin. Auch in der Schrift, lernte ich, kommt die Gesamtpersönlichkeit zum Ausdruck,. Manche Autoren behaupten sogar, dass man durch eine Änderung des Duktus der Schrift seine Persönlichkeitsmerkmale ändern könne.

Ananda holte aus ihrem Bücherregal den „Klages“, ein dickes, sehr trocken geschriebenes Fachbuch. Damals war es die bekannteste Lehrschrift der Graphologie. Mit dem Buch als Lernunterlage und mit Hilfe von Anleitungen Anandas vertiefte ich mich im Grundwissen der Schriftdeutung. Die Schriftdeutung geht von den vier Grundrichtungen des Menschen aus: Oben (Oberlängen): entspricht der Kopfregion, dem Intellekt. Sind die Oberlängen schmal entspricht dies nüchternem, zielstrebigen Denken, sind die Oberlängen ausholend, so spricht dies einer phantasievollen bis schwärmenden Veranlagung.
Unten (Unterlängen): der Boden die Basis, das Materielle. In der Breite und Länge der Schleifen zeigt sich die Betonung des Aspektes. Die Neigung der Schrift. Es ist hierbei nötig zu unterscheiden, ob die Schrift von einem Rechtshänder oder Linkshänder stammt; zeitbedingte Gepflogenheiten und Schulzwänge sind ebenfalls von Einfluss - deshalb ist eine Altersangabe der Schreiber nötig:
Rechts ist das Zukünftige, das wohin man strebt (bei Rechtshändern). Vorgeneigt strebt man hin.
Links ist das Vergangene, das woher man kommt. Ist die Schrift dort hin geneigt, so hat dieser Aspekt besondere Bedeutung - psychische Bindungen, Scheu vor Taten (Tat erfolgt in der Zukunft) etc. Linksneigung kann auch Angst vor der Zukunft sein.
In der Schrift spiegelt sich auch eine Gestik, etwa weit ausholend und übertreibend, kraftvoll oder hauchzart und vieles mehr.

Von der Graphologie her war es nicht mehr weit zur Psychologie und von dort zur Traumdeutung. Besonders schätzte ich die Lehre von den Archetypen nach C.G. Jung, als Grundelement der Symbolkunde.
Mein Wissen und Interesse weitete sich aus bis zur Mythologie und Symbolik in der Volkskunde. Ein diesbezüglich ungemein reiches Feld boten Märchen und ich liebte es, solche in den Yogastunden zu bringen und auszulegen. Die Wissensgebiete verzweigten sich immer mehr und es reichte nicht mehr Notizen in einem Protokollbuch anzulegen. Ich legte mir meine ersten, nach Sachgruppen geordneten Skripten zu, etwa ein „Symbollexikon“, das ich bebilderte und mit Beispielen aus eigenen Träumen belegte.

Ananda war bei aller Religiosität erdverbunden und pragmatisch. Das, was ich im sozialen Verhalten und Auftreten bei ihr erlernte, wurde durchgetestet. In diesem Sinne wurde ich gelegentlich Bekannten aus dem Nahkreis vorgestellt und bei Einladungen mitgenommen.

Mein Selbstbewusstsein und meine Selbstsicherheit wuchsen mit zunehmenden Erfolgen und Ananda zog mich vermehrt als Berater ins Vertrauen. Es gab vieles um den Meister und die Lebenssituation, das sie mit Außenstehenden nicht besprechen konnte. Allmählich wurde ich für sie, tatsächlich wie vom Meister vorhergesagt, zu einer Stütze.