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Begegnung mit Ananda

Ananda war neugierig wer da kommen sollte. Ihr jenseitiger Lehrer Ramakrishna war ihr erschienen und hatte ihr einen Schüler angesagt. Ramakrishna, ihr geliebter Satguru, der ihr schon einmal in Prag eines Morgens erschienen war, um ihr für den anbrechenden Tag die Freilassung aus dem Gestapo Gefängnis anzukündigen. Ihre Mitgefangenen lachten sie damals aus: "Hier kommt niemand raus, es sei denn nach Auschwitz". "Die Arme, dachten sie, jetzt dreht sie durch." Jedoch Ananda kam frei, genau wie angesagt. Wie hätte sie also an einer Botschaft durch Ramakrishna zweifeln können?
Eine Ankündigung bedeutete jedoch nicht, dass man es sich bequem machen könne. Wenn solche Weissagungen eintreffen sollten, so musste man auch seinen Beitrag dazu leisten. Ananda gab einige Inserate in die Zeitung, wie üblich mit einem Postfach als Absender. Man konnte nie wissen, ob vielleicht ein religiöser Fanatiker an die Türe klingeln würde, oder ein Psychopath, der im Yoga einen Therapieersatz suchen würde. Yoga war damals noch eine exotische Lehre. Mag sein, dass Anandas Ängste übertrieben waren, aber die Zeiten der Verfolgung wegen ihrer jüdischen Abstammung waren für sie noch nicht vergessen. So etwas bleibt im Bewusstsein, selbst dann, wenn man es gerne vergessen würde.

Das Inserat war ein Erfolg. Es hatten sich drei Leute gemeldet. Nach Durchsicht schienen die Zuschriften alle seriös zu sein und Ananda gab den Interessenten Adresse und Termine bekannt. Heute sollte der erste von diesen dreien kommen, einer, der sich schon vor einem Jahr beworben hatte, aber von ihrem Lehrschüler Heribert abgelehnt wurde. Heribert war der Meinung, dass dieser Bewerber laut Lebenslauf zu viele Jahre im Ausland war und sicherlich zu wenig Sesshaftigkeit mitbrachte, um sich einer vieljährigen Yogaschulung zu unterziehen. Nachdem inzwischen ein Jahr vergangen war und der Interessent noch immer in Wien war, bestand anscheinend doch Hoffnung, dass dieser sein Fernweh zumindest teilweise unter Kontrolle gebracht hatte.

Es klingelte. Ananda ging zur Türe und öffnete. Ein junger Mann stand im Schatten des Stiegenhauses und sie forderte ihn auf herein zu kommen. Drinnen musterte sie ihn. Er war groß, muskulös, hatte eine Stoppelglatze und war billig angezogen. So wie er aussah war er nicht vielversprechend.

Nach einem Foto aus meinem ersten Yogajahr

Der Fremde musterte sie und blickte sich ungeniert in der Wohnung um. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sollte sie ihn mit einigen wohlüberlegten Argumenten gleich hinausempfehlen oder ihm noch eine Chance geben? Nun ja, er hatte sich die Zeit genommen, um quer durch die Stadt zu fahren, das könnte man ja positiv bewerten.

„Komm herein in den Ashram“, sagte sie zu ihm. Sie sprach im Yoga alle mit Du an, zum Zeichen, dass alle gleich waren und verwendete auch gern Sanskritworte, egal, ob die Interessenten das nun verstanden oder nicht. Zumindest demonstrierte sie ihnen damit, dass einiges anders lief.

Der junge Mann ließ sich nichts anmerken und folgte ihr in den Yogaraum, den er genauso aufmerksam musterte wie das Vorzimmer.

„Setz dich hierher. Form deine Hände zur Schale. Hier hast du ein Stück Brot. Iss es!“ Sie beobachtete ihn hierbei aufmerksam. Er aß es mit Andacht. Das war für das erste nicht schlecht. Es hatte schon Interessenten gegeben, welche das Brot abgelehnt hatten, weil keine Butter darauf gewesen war.

„Was hast du dir dabei gedacht?“
„Brot ist das Symbol für Nahrung“, sagte er.
„Eine sachliche Antwort, nichts von Religiosität“, dachte Ananda. Sie ging ein bis zweimal im Monat zur heiligen Kommunion, deshalb sah sie diese Handlung aus einer anderen Perspektive.
Sie zog ihre Stirn in Falten und sagte in missfallendem Ton: „Das war gerade noch grenzwertig akzeptabel“.
Der junge Mann schwieg. Er zeigte keinen Versuch etwas zu korrigieren. Ananda ging zum zweiten Testabschnitt über, der Untersuchung der Hände und dann zur Schriftprobe.

Die selbe Begegnung aus der Perspektive des Interessenten (Vayu), in Ich-Form geschrieben:
Ein Brief von der Yogagemeinschaft! Endlich! Ich freute mich sehr darüber und öffnete den Brief. Es waren zwei kurze nüchterne Zeilen mit Tag, Uhrzeit und Adresse. Bei der Adresse stutzte ich: ein halbes Jahr zuvor bin ich in eben diesem Haus täglich ein und aus gegangen, um dort als Funker zu arbeiten.

Ich ging die fünf Stockwerke die Stufen hinauf. Ich fuhr ungern mit den alten, klapprigen Aufzügen dieser Althäuser. Außerdem war Stufensteigen sportlicher. Oben stand ich vor einer sehr hohen, schwarzen Tür zu der einige Holztreppen hinauf führten. Ich läutete an und eine kleine pummelige Frau bat mich einzutreten. Ich stieg die zwei Holztreppen hinauf und stand in einem schwach beleuchteten Vorzimmer. Ich sah mich um. Außer einer Bank deren ausgebeulter Stoffüberzug die einzelnen darunter liegenden Stahlfedern erkennen ließ, gab es nur drei Türen und sonst nichts. Ein kahler Raum. Nicht einmal ein Spiegel war da zu sehen. Dann musterte ich die Frau. Ich tat es unauffällig, indem ich meine Pupille weitete wodurch ich die gesamte Gestalt zugleich sehen konnte, wenngleich weniger scharf.

Guru Ananda

Die Frau selbst hatte nichts Exotisches an sich, sah nicht anders aus als irgend eine Frau draußen auf der Straße. Das konnte nicht der Guru sein, sondern war wahrscheinlich die Hausgehilfin. Also stellte ich mich auf das Warten ein, bis sie den Guru holen würde. Zufrieden nahm ich die Höflichkeit an, mich zum Warten in einen anderen Raum zu begeben. Ashram sagte sie dazu. Wird also so etwas wie ein Turnraum sein. Ich hatte recht, es war ein Turnzimmer, denn auf dem Boden lagen zusammen gefaltete Pferdedecken.

Die Frau tat sehr selbstbewusst und statt sich mit einem Kopfnicken zu entfernen, um den Guru zu holen, ließ sie mich drinnen auf den Fußboden setzen. Ich war überrascht, offenbar hatte ich mich getäuscht. Sie bat mich die Hände zu einer Schale zu formen und legte ein Stück Brot hinein, das ich essen sollte.

Ich tat, was sie wollte und aß das Stück Brot. Ich aß es langsam und genüsslich. Plastisch sah ich jene Zeit vor mir, erst wenige Jahre zurück gelegen, in der ich bisweilen glücklich gewesen wäre wenigstens einen Bissen Brot zu haben. Es war in meinem ersten Jahr in Deutschland. Damals hatte ich von Samstag mittags bis Montag morgens nichts zu essen. Ein Stück trockenes Brot konnte ich mir damals nicht leisten, dafür reichte das Geld nicht. Ich hatte auch keine Heizung in meinem Zimmer. Gerade im ersten Winter hatte es unter minus 30 Grad, und ich lebte in einem ungeheizten Dachbodenzimmer. Ich legte mich mit Pullover, einigen Unterhemden und zwei Hosen schlafen. Am Morgen konnte ich meine Decke wie ein Holzbrett abheben, denn sie war bis in Bauchhöhe von der Atemluft vereist und steifgefroren. Einmal bekam ich einige Äpfel geschenkt. Ein Luxus. Ich habe mich sehr über diesen Schatz gefreut. Wie groß war meine Enttäuschung, als ich die Äpfel am nächsten Morgen hart wie Steine gefroren vorfand. Sie waren auch nach dem Auftauen nicht mehr genießbar. Ich war bis dahin ein Stadtmensch gewesen und auf die Kälte und das karge Leben nicht eingestellt. Doch ich war zäh und schaffte es, wenngleich mit Nierenschmerzen, einem chronischen Blasenkatarrh und einer Stirnhöhlenentzündung. Ich hatte in diesem ersten Jahr keine warme Kleidung und auch keine Möglichkeit welche zu kaufen. Meine Füße in den Gummistiefeln wickelte ich in Zeitungspapier, das half ein wenig.

Mit diesen Situationen vor meinem inneren Auge war ich glücklich, dass ich derzeit nicht mehr solchen Nöten ausgesetzt war. Ich war zufrieden mit dem Jetzt und aß jenes kostbare Gut, das ich seit damals schätzen gelernt hatte.

Mit dem letzten Bissen, den ich schluckte, kehrte ich wieder in die Gegenwart zurück. Ich blickte zu der Yogalehrerin und sah, dass sie mit diesem Test anscheinend zufrieden war. Erst später begriff ich, dass Guru Ananda mein Verhalten als sakrales Empfinden auslegte. Ich wäre sicher zu diesem Zeitpunkt über eine solche Interpretation äußerst erstaunt gewesen. Frömmigkeit und Religiosität lagen mir völlig fern. Religion war für mich damals mit Klerus und Moral verbunden, ich aber wollte frei sein und das machen, was ich für richtig fand.

Die Yogalehrerin stellte mir nach dem Essen des Brotes die Frage, was ich hierzu gedacht hätte. Mit meiner Antwort war sie nicht sonderlich zufrieden, obwohl die Antwort logisch und richtig war. Merkwürdig, was hatte sie sich denn erwartet?

Es folgten dann noch einige Prozeduren, in welchen sie meine Hände ansah und sich eine Schriftprobe auf Basis eines Diktates geben ließ. Bei keiner Firma wurde ich je so geprüft, aber offenbar hatte ich einen sehr genauen Menschen vor mir, oder es wurde nur sehr selten jemand aufgenommen. Als ich positiv bewertet wurde, nahm ich letzteres an. In meiner etwas hoch gestochenen Selbsteinschätzung empfand ich, dass ich für einen elitären Yoga gute Voraussetzungen mitgebracht hatte und deshalb akzeptiert worden war. Trotz mancher Unsicherheiten, die mir allerdings nach außen durch mein Training im Ausland nicht mehr anzusehen waren, war ich sehr überzeugt von mir. Ich hatte kämpfen und mich durchsetzen gelernt.

Ich erinnerte mich als ich einmal an der holländischen Grenze im Zug gesessen bin und von dem Grenzbeamten wegen nicht nachzuweisender Unterkunft abgewiesen wurde. Das war insofern unangenehm gewesen, als mein Geld nur noch für 200 km Bahnfahrt gereicht hatte, ohne Reserve für Essen oder Unterkunft. Ich hatte mich auf eine Bank am offenen Perron gesetzt, meinen großen Seesack geöffnet, und mein Notizheft heraus geholt, um nach einer möglichst nahe gelegenen Firma zu suchen. Zum Glück wurde ich in der Firma angenommen. Berufliche Wanderjahre sind damals in der Sparte der Obst- und Gehölzgärtnereien in Deutschland noch üblich gewesen. Jedenfalls seit jenem Vorfall an der Grenze hatte ich nie wieder einen Seesack verwendet, sondern hatte mich lieber mit zwei Koffern auf die Reise begeben - das würde bei der Grenzkontrolle einen besseren Eindruck machen, hatte ich mir gedacht.

Zufrieden ging ich an jenem Abend meiner ersten Begegnung mit meiner zukünftigen Yogalehrerin nach Hause. Es war nun schon mehr als zehn Jahre her, damals war ich 16, als ich einen Dokumentarfilm mit Yogis sah, wie sie eine Eremitage aus Holzhütten bauten. Ab damals hatte ich das Bild der langhaarigen Yogis mit den vom Sonnenlicht weiß strahlenden Schneegipfeln des Himalaya in mir getragen. Es war das Bild einer Heimat von Fels und Himmelsblau, das tiefstes Heimweh in mir erweckte. Damit verbunden hatte ich eine verzehrende Sehnsucht nach Yoga. Es dauerte gut zehn Jahre bis sich nunmehr meine Sehnsucht erfüllt hatte und ich meinen Guru gefunden hatte, wenngleich dieser nicht meinen ursprünglichen Vorstellungen entsprach.

Ich konnte mich in der Welt behaupten, in meinem Wesen aber war ich ein Romantiker, der in einer Welt der Träume zu Hause war. Jetzt konnte ich jene geheimnisvollen Übungen lernen, die mir eine Welt jenseits des Alltags öffnen würden.